Lasst uns reden.
Über den Offenen Brief zum Krieg in Gaza, wie er von Mitgliedern der Grünen geschrieben wurde und in der Partei seit einigen Tagen seine Kreise zieht.
Lasst uns ehrlich reden über politische Debattenkultur.

Für diejenigen, die sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit mir über die israelische Bodenoffensive ausgetauscht haben, sollte es keine Überraschung sein, dass ich Zionist bin.
In meinen Augen ist das keinesfalls ein schmutziger Begriff, wie es von propalästinensischen Aktivist*innen gerade in den sozialen Medien gerne suggeriert wird.
Zionist zu sein, bedeutet für mich schlicht, dass der Staat Israel ein Existenzrecht hat, ein Existenzrecht explizit auch als Schutzraum für jüdisches Leben, dieses Existenzrecht bewahrt werden muss – und in letzter Konsequenz auch, dass Israel ausreichend bewaffnet werden muss, um in der Lage zu sein, seine fortwährende Existenz militärisch zu sichern.

Dies alles bedeutet aber nicht, dass ich außerstande wäre, die jahrzehntelangen Bemühungen der Palästinenser*innen um einen eigenen Staat, um eine Unabhängigkeit Gazas und des Westjordanlandes von Israel, zu unterstützen.
Ganz im Gegenteil. Es bricht mein Herz, dass wir seit dem Terrorangriff der Hamas am 07. Oktober 2023 weiter von einer friedlichen Zweistaatenlösung entfernt sind, als möglicherweise je zuvor.
Es bricht mein Herz, dass auch die Siedlungspolitik israelischer Regierungen, insbesondere der Regierungen unter der Führung Benjamin Netanjahus, faktisch zur gegenwärtigen Verunmöglichung einer Zweistaatenlösung beigetragen hat – völlig unabhängig vom mörderischen Terror der Hamas, der darüber keinesfalls gerechtfertigt werden kann.

Und ja, auch das Leid, der Hunger und das Sterben der palästinensischen Zivilbevölkerung während des anhaltenden Einmarsches der israelischen Streitkräfte in Gaza bricht, obgleich ich die zwingende Notwendigkeit einer solchen Bodenoffensive nachvollziehen kann, mein Herz.
Kein gesunder Mensch genießt es, Bilder zerstörter Häuser und toter Zivilist*innen zu sehen, niemand sollte das als Normalität abhaken.

In weiten Teilen kann ich also nachempfinden, was die Autor*innen bewegt haben muss, als sie ihren Offenen Brief verfasst haben; zumindest drei oder vier Textstellen würde ich nichtsdestotrotz entschieden widersprechen.
Im Folgenden soll es mir aber gar nicht darum gehen, um welche es sich dabei im Detail handelt, vielleicht lässt sich dies aus den vorausgegangenen Zeilen bereits ableiten.

Es geht mir vor allem darum, dass ich diesen Widerspruch nicht äußern kann.
Es geht mir um Offene Briefe als Mittel der Debatte.

Bereits vor einigen Jahren habe ich mich enttäuscht gezeigt, als sich unter den Kreisverbänden der GRÜNEN JUGEND Nordrhein-Westfalen eine Epidemie öffentlicher „Statements“ zu verbandsstrukturellen Problematiken auszubreiten schien.
Ich war in erster Linie von der mangelnden Effektivität dieser Stellungnahmen irritiert, die eher darauf abzuzielen schienen, sich möglichst öffentlichkeitswirksam zu beschweren, statt sich einer konstruktiven, innerverbandlichen Debatte zur Lösung der angesprochenen Problematiken zu stellen.

Im Diskurs der Partei scheint sich in den letzten Monaten ein ähnliches Problem etabliert zu haben – begonnen mit den Tiraden der Vert Realos wirkt es, als wäre es en vogue geworden, in Offenen Briefen alle möglichen und unmöglichen Themen abzuhandeln – von den Parteistrukturen an sich über die deutsche Positionierung zu GEAS bis hin zum Krieg in Gaza:
Im Abstand weniger Monate gibt es einen neuen Offenen Brief, ständig ist es zwingend erforderlich, ihn unbedingt unterschrieben zu haben, denn dieses Mal werde er die Parteispitze ganz sicher zum Umdenken bewegen.

In der Folge passiert üblicherweise…wenig bis nichts.
Hin und wieder berichtet die Presse für eine kurze Weile, der Parteivorstand und die betroffenen Minister*innen äußern sich gönner*innenhaft über die „engagierte Basis“ und gehen anschließend wieder zum Tagesgeschäft über.
Die Autor*innen klopfen sich gegenseitig dafür auf die Schulter, ihrem Thema begrenzte Öffentlichkeit verschafft zu haben – und tun danach Ähnliches.

Nun könnte man die Parteispitze dafür kritisieren, dass sie die von ihrer Linie abweichende Meinung der Autor*innen nicht ausreichend respektieren würde.
Ich vermag das kaum zu tun.
Einige Dutzend oder – großzügig – einige hundert Parteimitglieder haben kontinuierlich eine von der Parteispitze abweichende Meinung, zu welchem Thema auch immer.
Es ist zu erwarten und sogar wünschenswert, dass in einer Partei, insbesondere aber einer Partei, die an der Bundesregierung und diversen Landesregierungen beteiligt ist, Meinungspluralismus herrscht.
Gleichermaßen verständlich ist es, dass Gruppen, die ihre jeweilige Meinung nicht durch die Parteispitze repräsentiert sehen, nach Wegen suchen, sich Gehör zu verschaffen.

Die Offenen Briefe der letzten Monate tragen nach meiner Einschätzung aber nicht nur wenig zur innerparteilichen Meinungsbildung bei, sie können das Debattenklima gar negativ beeinflussen.
Immer wieder ertappe ich mich selbst dabei, wie ich mit anderen Mitgliedern darüber spreche, welche Personen nun diesen oder jenen Offenen Brief unterzeichnet oder auch nicht unterzeichnet haben, was wohl ihre Beweggründe dafür gewesen sein mögen und wie dies unser Bild von ihnen beeinflusst.
Im Gegensatz dazu diskutiere ich nur selten den tatsächlichen Inhalt.

Wozu denn auch? Offene Briefe sind keine Diskussionsformate.
Sie laden nicht zur Beteiligung ein, sind eine einseitige Kommunikation.
Ich kann mich mit den Verfasser*innen eines Offenen Briefes nicht streiten, kann keine Änderungen einzelner Abschnitte beantragen, kann ihn lediglich hinnehmen, wie er mir angezeigt wird, ob ich ihm nun zustimme, oder nicht.
Wie schade.

Denn eine Partei bietet so viel interaktivere Möglichkeiten, eine Mehrheit für die eigene Haltung zu finden.

Sie umfasst Arbeitsgemeinschaften in den Ländern und im Bund, die sich streiten, miteinander versöhnen und gemeinsame Positionspapiere erarbeiten, Parteitage auf Kreis-, Landes- und Bundesebene, an die Anträge gestellt werden können.
Anträge, die diskutiert, von anderen Mitgliedern bearbeitet und so auch medial eine wesentlich größere Öffentlichkeit erreichen können, die über frustrierte Kreisvorstände weit hinausgeht.

Nicht immer werden die auf Parteitagen beschlossenen Richtlinien anschließend auch von der Parteispitze nach Außen vertreten.
Das ist mir bewusst und ein strukturelles Problem, bei dem der basisdemokratische Anspruch der Grünen mit der Realität der Kompromissfindung und des Alltagsgeschäftes im Regierungsbetrieb kollidiert.
Für dieses Problem habe ich in aller Ehrlichkeit auch keine pauschale Lösung zur Hand – lediglich die Hoffnung, dass es uns gelingt, neue und möglicherweise digitale Plattformen zu finden, die einen überregionalen Austausch der Basismitglieder mit der Parteispitze regelmäßig auch außerhalb von Parteitagen und den oftmals stark akademisierten Plena der verschiedenen Arbeitsgemeinschaften ermöglichen.

Sicher bin ich mir jedoch, dass es kein Problem ist, welches kontinuierliche Offene Briefe lösen könnten.
Sie heizen das Klima im Verband für eine kurze Weile auf, führen zu keinen konkreten Ergebnissen – und verpuffen anschließend wieder.

So wird es auch dem Offenen Brief zum Krieg in Gaza gehen.
Er wird eine Illusion von Wirksamkeit schaffen, die ihr Versprechen in der Folge nie einlöst.
Noch einmal: Wie schade.
Denn das wird seinem wichtigen Anliegen einfach nicht gerecht.

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